Tusnelda vor der Wand 1

An einem Abend fasste Tusnelda den Entschluss, die Wand ihres Zimmers hinaufzuklettern, um über die obere Kante zu sehen. 

Schon seit Tagen hatte sie immer wieder diesen Gedanken, der zunehmend drängte und Zweifel brutal niederschrie. Nun, da sie nachgegeben hatte, war nur noch die Art und Weise wichtig. Je mehr der Wunsch, über die obere Kante sehen zu wollen, Besitz von Tusnelda ergriff, desto weniger Hindernisse schienen ihr im Weg zu sein. Da war jetzt ein Tisch, dann ein Stuhl auf dem Tisch und die Wand selbst änderte ihre Gestalt, als wollte sie Tusnelda entgegenkommen. Die Kante, wo Wand und Zimmerdecke aufeinander stießen, dort, wo manchmal kleine Spinnlein laufen, war schon in dem Moment nicht mehr vorhanden, als sie mitsamt der Decke aus Tusneldas Bewußtsein verschwunden war. Das Ende der Wand war nur noch ein Übergang und Ausblick. Sie sah zur Seite und entdeckte sich selbst wie in einem Spiegel. Die andere Tusnelda erwiderte ihren Blick aber sie stieg einen Baum hinauf. Mit sicheren, ruhigen Bewegungen griff sie dort den nächsten Ast, den Plan für den darauffolgenden Tritt schon im Kopf.

Über der Wand tauchte der nächtliche Sternenhimmel auf, kühl und verlockend wie Wasser an einem heißen Sommertag. Auch als Tusnelda rittlings auf der Wand saß, war jenseits davon nichts als dieser dunkle Himmel. Gleißend weiß war Tusneldas Wand da hineingeschnitten. Sie blickte nicht mehr zurück in ihr Zimmer, aber dessen Bild schob sich dennoch über die Nacht, die Requisiten ihrer trotzigen Flucht, der Tisch, der Stuhl.

„Jetzt passiert zum ersten mal, was immer wieder geschehen wird“, dachte sie als sie bereits im Sprung war.

 

 

 

Die Wand steht weiß und grell im Nachthimmel von einer diffusen Laterne angestrahlt. „Unzählige solcher Wände gibt es auf der Welt“, denkt Tusnelda, „einsame Orte im Niemandsland. Ich habe nur mich selbst mitgenommen, sonst nichts.“ Der Schreck dieses Gedankens kühlt nach einem Moment der Panik. Sie setzt sich vor die Wand, legt die Hände in den Schoß und lehnt sich zurück.

„Hier beginnt die Geschichte. Jetzt muss ich nur noch warten.“

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© 2018 - 2024  Katrin Köster

Katrin Köster | Kunst, Film, Fotografie 0