Tusnelda vor der Wand 2


 

Tusnelda hatte lange in die Dunkelheit hinein gestarrt. Wie Wellen kam immer wieder Furcht über sie um im Zurückrollen eine nie vorher gespürte Leere bloßzulegen. Es war nicht die Furcht vor der Dunkelheit, sondern vor ihrer Entscheidung nun vor der Wand zu sitzen mit allen Konsequenzen. Hier gab es keinen Rückhalt mehr in vorgeformten Ideen und durchgereichten Gedanken. Sie wollte die Dinge selber ordnen, ihnen ein neues Gesicht geben. Und sie wollte auf jemanden warten, der mit ihr sprechen würde. Der Rückhalt war nun die weiße Wand. Je länger sie dort saß, desto häufiger tauchten unscharfe Bilder authentischer Erfahrungen und unmittelbar erlebter Empfindungen auf. Sie waren frei von Beurteilung und die daraus entstehenden Gedanken unterschieden sich für Tusnelda deutlich von denen, die sie sonst hatte. Manche verbanden sich zu Ideen und waren oft roh, ließen sich weder in eine Ordnung einfügen noch strebten sie Lösungen für Fragen an. Trotzdem liebte und pflegte Tusnelda sie, damit sie überlebten, denn gerade dass wäre in ihrer bisherigen Welt hinter der Wand sicher schwierig gewesen. Hier aber war schon durch den Mut, sich ins Nichts zu setzen, alles möglich.

Sie saß bereits lange unbeweglich vor der Wand, als sie zum ersten mal ein Huschen bemerkte. Es war nur eine kurze Abschattung des Lichts in dem sie saß, ein Flackern der Laterne. Wenig später spürte sie einen leichten Wind auf der Haut, nicht mehr als wäre es der Flügelschlag eines kleinen Vogels. Diesmal überschwemmte sie die Furcht wie Wellen einer Springflut. 'Meine Gedanken sind noch keine Überzeugungen', dachte sie panisch. 'Der Zustand ist noch unreif. Ich kann nicht einmal wirklich einen Unterschied machen zur Welt hinter der Wand. Ich bin nur in einem Zustand kitschiger Überheblichkeit und werde gleich jemanden damit betrügen. Ich will weder Lehrer noch Schüler sein. Alle die sich von meinem vor der Wand sitzen angezogen fühlen, sind eigentlich von mir verleitet und werden abgelenkt von ihrer eigenen Wand. Sie werden denken, ich wolle Buddha zitieren und mich anmaßend finden, mich verspotten oder sich gelangweilt und vielleicht auch angewidert abwenden.“

Die Befürchtungen türmten sich in Tusnelda zu einem ohrenbetäubenden Geschrei auf. Sie vergaß dabei, auf die zarte Anwesenheit zu achten, die sie eben erst wahrgenommen hatte. Aber auch das Geschrei verstummte nach und nach und wurde von dem Gedanken verdrängt, das all das nun mal die Gefahr sei, der sie sich hier im Nichts aussetzen würde. Es sei leicht wieder hinter die Wand zurückzuklettern und ausgetretene Ideen und Überzeugungen weiterzureichen.

Tusnelda blieb sitzen und als sie feststellte, dass sie jetzt mit gesteigerter Aufmerksamkeit in die Dunkelheit starrte gewährte sie sich lächelnd den Aufstieg ins nächste Level. 

„Klug sollst du sein und wenn du‘s noch nicht bist, musst du‘s werden.“

 

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Katrin Köster | Kunst, Film, Fotografie 0