Tusnelda vor der Wand 3

Tusnelda konzentrierte sich angestrengt auf die Dunkelheit und die Geräusche in ihr, aber es vergingen Stunden, ohne dass etwas anderes als sie selbst sich bewegte. Enttäuschung schlich sich in ihre Gedanken und der Wunsch, dass das, was sich ihr genähert hatte, bitte wiederkommen möge. Diesmal würde sie es nicht vertreiben. Tusneldas Sinne waren so sehr auf das Andere gerichtet, dass sie sich nach einiger Zeit selbst vor der weißen Wand sitzen sah. Sie betrachtete ihre eigene Gestalt, die etwas zusammengesunken unter der hellen Lampe saß, regungslos. Sie sah sich selbst und war das fremde Andere im Dunkeln auf das sie hoffte. 

Plötzlich hob Tusnelda den Kopf und suchte aufmerksam ihre schwarze Umgebung ab. Ihre Augen waren weit geöffnet, flehten um einen winzigen Blick auf etwas Neues, Fremdes, und sie sah dadurch verloren und einsam aus. Jetzt, wo sie das Andere suchte, war jeder Moment der Gelassenheit den es zuvor schon gegeben hatte, weggewischt. Sie schien das Andere unbedingt zu brauchen, nun da sie Hoffnung daran klammerte. Sie beobachtete sich selbst, wie der suchende Blick nach langer Zeit die Anspannung verlor und sich auf Unendlich fokusierte. Tusnelda sah sich selbst so offenkundig hilflos und in kindlicher Erwartung vor der Wand sitzen, dass sie lachen musste.

Da hat jemand gelacht! Sofort waren alle Sinne auf den Punkt in der Dunkelheit gerichtet, aus dem das Lachen kam. Der Wechselstrom zwischen Scham und Freude ließ Tusnelda aufspringen und einen Schritt nach vorne machen, aber den Kegel der Lampe wollte sie nicht verlassen. Das tiefe Schwarz jenseits des Lichtkreises war wie die Verheißung, im Dunklen eine Treppe hinunter zu stürzen. Und dann stand sie still mit herabhängenden Armen, denn hatte dieses Lachende sie nicht schon die ganze Zeit über beobachtet, um nun das vernichtende Urteil der Lächerlichkeit über sie zu fällen? Sie sah sich selbst, wie sie im grellen Licht voller Bestürzung vor einem Richter steht, selbst blind, und jetzt möchte sie sich etwas zurufen, ein paar Worte der Beruhigung, vielleicht Trost. Aber das Gefühl der Anteilnahme bleibt in der Kehle stecken, denn sie sieht sich, wie sie sich räuspert.

Was nun geschieht, schnell und unaufhaltsam, kommt der Panikreaktion eines Tieres gleich. Tusnelda springt gegen die Wand, zappelt mit Armen und Beinen, greift die obere Kante und ist mit einem Schwung darüber verschwunden. Langsam klärt sich der Lichtkegel vom aufgewirbelten Staub und sie schaut fassungslos auf ihre eigene Abwesenheit, eine leere weiße Wand, ein verlassener Platz.

,Natürlich habe ich irgendwann auch mal Hunger‘, denkt Tusnelda trotzig. ,Ich will mir nur einen Apfel holen. Glaubt ihr denn, dieser ganze Kampf um das Eigene, um den es hier geht, muss nicht manchmal auch mit profaner Nahrung gefüttert werden? Ich habe einen Tisch, einen Stuhl, ein Messer, einen Apfel und kein Fenster. Alles das benutze ich jetzt, nur kein Fenster kann ich nicht benutzen, denn was man nicht hat kann man nicht benutzen. Herauschauen geht nicht, ich kann nur über die Wand springen auf die andere Seite, und das es da so dunkel ist habe ich erwartet, aber es zu erleben ist noch mal was anderes. Da muss ich in mir selbst alles finden, was ich benutzen kann. Immer habe ich das Gefühl, es ist eigentlich alles da. Dort ist kein Nicht-Fenster. Beweisen kann ich das nicht. Noch nicht. Ob ich einen Anderen brauche, um alles zu finden, - weiß ich nicht. Wahrscheinlich, und das ist dummerweise auch das Schwierigste. Das ist das echte Nicht-Da. Klug zu werden ist nicht leicht. Ich muss etwas benutzen, das ich nicht habe, - vielleicht. Ich muss etwas finden, von dem ich nicht weiß, ob es das gibt‘


 

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Katrin Köster | Kunst, Film, Fotografie 0